Das offene Netz, seine Gegner und wir: Wer das offene Netz wirklich schätzt, tut etwas dafür. Wir sind dran, mehr aus dem offenen Netz zu machen, meint Konrad Lischka.
Warum das offene Internet eine großartige Sache ist, hat die Entwicklung in den vergangenen zwei Jahrzehnten gezeigt:
Zehntausende Freiwillige haben die größte verteilte Enzyklopädie der Menschheitsgeschichte geschaffen. In den USA haben Online-Kurse völlig neuen Gruppen den Zugang zu höherer Bildung geebnet: Studierenden über 25 beispielsweise, Studierenden mit Kindern, mit Vollzeitjobs, Menschen in der Provinz. OpenStreetMap macht es möglich, dass bei Katastrophen Freiwillige weltweit die betroffenen Regionen detaillierter kartieren, um Helfern vor Ort die Arbeit zu erleichtern. Und nicht zuletzt kann ein Special-Interest-Medium wie heise online rund um die Uhr aktuell ein großes Publikum erreichen. Dass all das (und noch viel mehr) möglich ist, verdanken wir der technischen Basis des Netzes. Die Architektur des Schichtenmodells ermöglicht es, dass auch Initiativen ohne Geschäftsmodell theoretisch weltweit jeden Menschen als Mitgestalter oder Nutzer gewinnen können. Niemand muss die Grundlagen der Transportschicht nachbauen oder neu erfinden, niemand kann sie exklusiv nutzen. Deshalb kann nahezu jeder (Wissen, einen Rechner und eine Internetanbindung vorausgesetzt) neue, bessere Software schreiben, neue und bessere Medien machen und jeden erreichen, ohne dafür ein Unternehmen um Erlaubnis fragen zu müssen.
Das offene, von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Dezentralität geprägte Netz hat jedem eine nie gekannte Vielfalt an Medien, Diensten, Gemeinschaften und Programmen zugänglich gemacht. Den Idealen der Hacker verdanken wir die größte und zugänglichste Sammlung menschlichen Wissens und menschlicher Kultur, die je existiert hat. Und wie geht es weiter?
So weit so gut. Genau jetzt stehen wir an einer Schwelle: Noch nie haben so viele Menschen wie heute so intensiv das Internet genutzt. Doch zeigen diese vielen Menschen nur noch vergleichsweise wenig Interesse an dezentralen Medien, von Blogs über selbstorganisierte Plattformen wie Wikipedia bis hin zu offenen Kommunikationsinfrastrukturen.
Unternehmen stülpen geschlossene Dienste über das offene Netz. Immer mehr Menschen ziehen geschlossene Alternativen vor. Newsfeeds geschlossener sozialer Netzwerke statt Blogs und RSS. Whatsapp statt E-Mail und erprobter offener und flexible Standards wie dem Extensible Messaging and Presence Protocol (XMPP). Die jetzige Mediennutzung ist nicht mehr maßgeblich von Vielfalt und Autonomie bestimmt, wie jeder Blick auf die Trafficquellen großer Digitalmedien beweist. Das dezentrale Netz der 90er und frühen 00er Jahre existiert noch, aber es schwindet.
Diese Konzentration der Aufmerksamkeit bei Plattformen entzieht dem selbstorganisierten Netz den Nährboden und mindert die Vielfalt. Die gute Nachricht ist: Die technische Basis des Netzes erlaubt noch immer Innovation ohne Erlaubnis, ermöglicht Selbstorganisation und Dezentralität. Es ist unsere Entscheidung, was wir aus der Basis eines offenen Netzes machen. Was wir hegen, wird gedeihen. Dieses "wir" meine ich so majestätisch und pathetisch wie John Perry Barlow 1996 in seiner Declaration of the Independence of Cyberspace: Wer sich zugehörig zu einem offenen, dezentralen, von Selbstbestimmung geprägten Netz fühlt, ist Teil dieses Wir. Was also können wir tun?
Die wichtigste Feststellung für mich ist: Wir können etwas tun. Es ist egal, wie viele Millionen Menschen eine zentralisierte Plattform nutzen, wenn genügend andere Menschen eine offene Alternative lebendig machen. Damit ein offenes Angebote im Netz gedeiht, braucht es manchmal nur ein paar Tausend gut organisierter Aktive oder passive Unterstützer. Pinboard, das Archiveofourown, The Browser, Metager, Piqd sind Beispiele für Dienste, Medien, Archive, Suchmaschinen, die dank einiger Tausend Unterstützer existieren.
Wenn Ihnen Vielfalt im Netz wichtig sind, nutzen und fördern Sie Alternativen. Bevor Sie sich für Software, Hardware oder Online-Dienste entscheiden, denken Sie jeweils darüber nach, wer sie gestaltet hat, welche Ziele er verfolgt und was es für andere Möglichkeiten geben könnte, Ihrem Anliegen zu entsprechen.
Mich erinnert dieses Nachdenken an das Verhalten bei einem Einkaufsbummel über den Bauernmarkt: Woher kommt was? Was können die Händler über ihre Waren erzählen? Probieren Sie Dienste und Software aus, lernen Sie die jeweiligen Hintergründe kennen. Das hilft zumindest mir mehr als dogmatische Entscheidungen à la: Es muss immer Open Source sein, oder immer kostenfrei. Nachhaltiger Konsum ist vielleicht auch die Entscheidung, einen mittelständischen E-Mail- oder Online-Kalenderdienstleister aus Deutschland zu bezahlen, weil er offene Standards unterstützt. Ein gesellschaftliches Projekt
Wer das Netz als gesellschaftliches Projekt sieht, gestaltet mit: Wikis, Openstreetmap, Blogs, Gemeinschaften. Es gibt so viele alternative Modelle zum rein kommerziellen Ansatz, das Wissen, Können und die Kreativität von Menschen im Netz allein für die Reichweite einer auf Werbevermarktung fokussierten Plattform zu nutzen. Die wohl bekanntesten dieser Modelle sind Openstreetmap und die Wikipedia. Melden Sie sich an, ergänzen, korrigieren Sie, bereichern sie das Netz statt kommerzieller Monolithe mit Ihrer Kreativität.
Sehen Sie das Netz als gesellschaftliches Projekt. Entscheiden Sie, welche Werte Ihnen wichtig sind. Das klingt heute vielleicht etwas befremdlich. Doch in den vergangenen drei Jahrzehnten Technikgeschichte hat genau diese Haltung das Netz so offen und vielfältig werden lassen. Der Autor Steven Levy beschrieb 1984 im Sachbuch "Hackers: Heroes of the Computer Revolution" Menschen, deren kreativer Umgang mit Technik und Software Wertvorstellungen prägte, einen Lebensstil definierte und Identität stiftete. Einer der Sätze, die Levy aus seinen Interview destillierte, ist legendär geworden: "All information should be free. Computers can change your life for the better. Mistrust authority – promote decentralization."
Dieser Geist hat uns das offene Netz beschert. Jetzt sind wir dran, mehr daraus zu machen.