Die Erwartungen sind groß: Es geht um nichts weniger als die Energieversorgung der Zukunft und die größte Baustelle Europas. Doch der internationale Fusionsreaktor Iter lässt auf sich warten.
Die Zukunft der Energieversorgung? Oder ein gigantisches Euro-Grab, das nie fertig wird? Die Meinungen zum International Thermonuclear Experimental Reactor sind gespalten. Das ist der Fusionsreaktor, der in Cadarache in Südfrankreich gebaut wird. Die Abkürzung Iter ist lateinisch und bedeutet Weg - doch der ist in diesem Fall ziemlich steinig. Wenn von dem Großprojekt die Rede ist, geht es meist um schlechte Nachrichten: Die Anlage geht noch später in Betrieb als geplant. Dafür wird sie noch teurer. Was aber passiert im Tal der Durance, nordöstlich von Aix-en-Provence? Zunächst: Es ist Europas größte Baustelle. Neben der Halle für den Fusionsreaktor selbst entstehen 38 weitere Gebäude. Und diese Halle hat schon beträchtliche Ausmaße: Sie ist 120 Meter lang und 80 Meter breit. Der Boden besteht aus einer 1,5 Meter dicken Betonschicht. Darin wird der Reaktor stehen: ein Stahltank, 30 Meter hoch, 30 Meter im Durchmesser, 23.000 Tonnen schwer. Deuterium und Tritium fusionieren
In dessen Innerem wird sich der Reaktor befinden: eine ringförmige Kammer mit einem Radius von 6,2 Metern. Umgeben ist die Kammer von 18 supraleitenden Magneten mit der Form eines D - jeder mit einem Gewicht von 310 Tonnen. Diese Magnete erzeugen ein Magnetfeld, in dem ein Wasserstoffplasma eingeschlossen wird und in dessen Kern die Wasserstoffisotope Deuterium (D) und Tritium (T) fusionieren sollen. Damit das passiert, muss zwar viel Energie aufgewendet werden. Aber dafür wird das Zehnfache an Energie freigesetzt. Die Kernfusion gilt als Energiequelle der Zukunft. Am Iter soll erstmals eine Kernfusion mit einer positiven Energiebilanz durchgeführt werden - also gezeigt werden, dass die Energieversorgung der Sterne auch auf der Erde möglich ist. An dem Projekt sind die Europäische Union (EU), China, Indien, Japan, Russland, Südkorea und die USA beteiligt. Der Reaktor sitzt zum Teil unter der Erde
13 Meter tief sitzt der Fusionsreaktor in der Erde - und wird oben noch 60 Meter über den Boden herausragen. Er wird auf einem Sockel ruhen, der Krone. Das ist eine 4 Meter hohe und 3 Meter dicke Betonwand und laut dem Iter-Projekt sowohl aus struktureller als auch aus Sicherheitsperspektive einer der wichtigsten Teile der Anlage. Der Boden, auf dem die Krone steht, sowie die Krone selbst seien fertig, sagt Iter-Sprecherin Sabina Griffith In etwa zwei Jahren werde der Tokamak-Komplex weitgehend fertig sein - der Tokamak, ein hohler Ring, ist die Kammer, in der die Fusion stattfinden soll. Dann werde mit der Montage des Fusionsreaktors begonnen. Erste Komponenten dafür sind bereits in Frankreich eingetroffen: die Bodenplatte des Cryostaten etwa, mit 1.250 Tonnen das schwerste Teil des Reaktors, die in Indien gefertigt wurde, die Kühlwassertanks aus den USA oder Transformatoren aus Südkorea. Die Montagehalle ist fast fertig
Sie werden in der Montagehalle gelagert, einer Halle mit einer Grundfläche von 6.000 Quadratmetern, die weitgehend fertig ist. Hier werden Komponenten vormontiert, bevor sie dann in den Reaktor eingebaut werden. Die Montage werde schrittweise erfolgen, sagt Griffith.
So soll das erste Plasma erzeugt werden, noch bevor der ganze Reaktor fertig ist - aus Vorsicht: Sollten die supraleitenden Magnete nicht einwandfrei funktionieren, könne es auch in Cadarache zu einem Unfall wie 2008 beim Large Hadron Collider kommen, dem Teilchenbeschleuniger des europäischen Kernforschungszentrums Cern. Um zu vermeiden, dass die ganze Maschine wieder auseinandergenommen werden muss, soll es schon während des Baus Tests geben.
Wann das erste Plasma oder gar die erste Fusionsreaktion am Iter stattfinden wird, ist allerdings noch unklar.
Wer liefert was?
Im Herbst gab der Iter Council eine unabhängige Überprüfung des Projekts in Auftrag. Das Ergebnis will Iter-Direktor Bernard Bigot im April oder Mai bekanntgeben. Vor allem bei den Kosten wird es dann wohl Korrekturen geben.
Grund für die Verzögerungen ist die Besonderheit des Iter: Es ist eine Premiere, die erste Anlage dieser Art und Größe, ein Prototyp. Die nötigen Komponenten dafür müssen ebenso entwickelt werden wie Verfahren, Werkzeuge - oder Materialien: etwa ein spezieller Stahl, der Iter Grade Weld Steel, der sich dazu auszeichnet, dass er weniger Neutronen absorbiert als ein normaler Stahl und damit weniger stark kontaminiert wird. Oder das Material für supraleitende Magnete, Niob-Zinn (Nb3Sn): 500 Tonnen wurden dafür zwischen 2008 und 2015 hergestellt. Vorher belief sich die Jahresproduktion auf der ganzen Welt auf etwa 15 Tonnen. Die Partner liefern Komponenten
Auch die Organisation des Projekts ist ungewöhnlich: Die Komponenten für die Anlage fertigen und liefern die Partnerländer in Eigenregie. Am Anfang seien die Komponenten verteilt worden, und jeder der Partner habe auswählen können, erzählt Griffith. Die Auswahl sei nach zwei Kriterien erfolgt: So hätten sich die Länder für Komponenten entschieden, die von Vorteil und Wert sind, wie etwa die Supraleiter, an denen fast alle bauen. Oder sie hätten Komponenten aus Bereichen übernommen, in denen sie Kompetenzen aufbauen wollten. Bis es nach der Aufgabenverteilung losgehen konnte, dauert es dann eine Zeit: Jeder der Partner musste eine Agentur aufbauen, die die jeweiligen Aufträge ausschreibt und vergibt. In Europa macht das Fusion for Energy - The European Joint Undertaking for Iter and the Development for Fusion Energy (F4E), die in Barcelona ihren Sitz hat. Iter hat eine eigene Währung
Geld erhält Iter praktisch nicht von den Mitgliedern. Diese leisten ihren Beitrag stattdessen in Form der Komponenten, als Sachleistungen oder In-Kind Contribution. Damit es gerecht zugeht und die Lasten gleichmäßig verteilt sind, wurde ein spezielles Abrechnungsmodell ersonnen: Für jedes Teil wurde ein Punktewert ermittelt, den die Mitgliedstaaten für die Lieferung gutgeschrieben bekommen. Abgerechnet werden die Punkte in einer eigenen Währung, der Iter Unit of Account (IUA).
"Die Art und Weise, wie wir Iter betreiben, ist nicht der schnellste Weg", sagt Griffith. Es ginge wahrscheinlich schneller, wenn Iter die Aufträge zentral vergeben würde und die Mitgliedsländer Geld überwiesen. Bei dem Projekt gehe es aber nicht nur darum, den Prototyp eines Fusionsreaktors zu bauen und dafür die nötige Technologie zu entwickeln, sondern auch darum, die Kompetenzgrundlage zu schaffen, um dann, wenn Iter funktioniert, weltweit Fusionskraftwerke zu bauen. "Das Ganze ist auch ein großes Lernprojekt, wo die beteiligten Nationen mitlernen", sagt Griffith.
Das Modell macht Iter aber nicht nur langsam.
Wie viel kostet Iter?
Auch die Kosten von Iter sind ein Problem. Derzeit werden sie auf 15 Milliarden Euro geschätzt. Die Zahl stammt allerdings aus dem Jahr 2007. Sie war das Ergebnis einer früheren Überprüfung und basiert auf den Baukosten. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts waren die Kosten für Beton und Stahl exorbitant gestiegen, so dass der ursprüngliche Etat für den Bau nicht zu halten war. Daraufhin beantragten die Europäer mehr Geld bei der Europäischen Union (EU). Bevor sie das Geld freigab, verlangte die EU-Kommission Einblick in die Bücher. Damit gab es einen Anhaltspunkt. Ansonsten sind die Länder sehr zurückhaltend mit Zahlen - was eben dem besonderen Abrechnungsmodell des Iter geschuldet ist. "Wir werden nie genau wissen, was Iter kostet", resümiert Griffith. Es sei aber sehr wahrscheinlich, dass die Schätzung aus dem Jahr 2007 nach oben revidiert werde. Bei Fehlern droht Schließung
"Wir versuchen alles, um parallel zu arbeiten und schneller zu sein", sagt Griffith. Aber das Projekt dauert einfach. Auch ein Mehreinsatz an Geld und Arbeitskräften ließe sich nicht linear in eine Verkürzung der Bauzeit übertragen. "Wir müssen extrem vorsichtig sein mit allem, was wir tun. Wir dürfen uns keine Fehler erlauben", betont sie. Denn: "Alles, was wir machen, muss von der französischen Atomaufsichtsbehörde abgenommen werden. Wenn wir einen Fehler machen, dann machen die uns hier den Laden dicht."
Ob das tatsächlich, wie Griffith sagt, das Ende der Fusionsforschung weltweit wäre, mag dahingestellt sein. Sicher ist: Das Scheitern des Iter-Projekts wäre ein immenser Rückschlag für die Kernfusion. Auf die werden wir aber in Zukunft kaum verzichten können, um den steigenden Bedarf an elektrischer Energie zu decken.
Iter arbeitet mit der Fusion durch magnetischen Einschluss
Kohlekraftwerke werden ausgedient haben, wenn die Kohle knapp wird - von den Auswirkungen auf die Umwelt und das Klima ganz abgesehen. Eine Rückkehr zur Atomspaltung ist - spätestens nach dem Unglück in japanischen Atomkraftwerk Fukushima 2011 - auch nicht wünschenswert. Und ob es mit erneuerbaren Energien allein gelingen wird, Strom in ausreichendem Maß zu erzeugen, ist fraglich. Das soll die Kernfusion schaffen. Seit gut 50 Jahren arbeiten Wissenschaftler daran, das Prinzip nachzubilden, nach dem die Sterne funktionieren: Zwei Wasserstoffkerne verschmelzen zu einem Heliumkern, wobei sehr viel Energie freigesetzt wird. Bald wurde jedoch klar, dass das nicht wie anfangs gedacht auf dem Labortisch geht. Viele Entwicklungsschritte waren dafür nötig - und vor allem eine große Anlage. Gorbatschow schlug Iter vor
Michail Gorbatschow, damals Staats- und Parteichef der Sowjetunion, machte 1985 beim Gipfeltreffen der Supermächte den Vorschlag, einen Fusionsreaktor zu bauen. Die Idee: Nur eine Gemeinschaft von Staaten wird in der Lage sein, ein Projekt dieser Größe umzusetzen.
Es folgten zwei Jahrzehnte der Planung, der Vergabe von Aufträgen, der Suche nach einem Standort. Und der Rückschläge: So stieg Kanada 2003 aus dem Projekt aus, in dem Jahr, in dem die USA nach fünfjähriger Abwesenheit wieder einstiegen. Japan war nach dem schweren Erdbeben 2011 eine Zeit lang nicht in der Lage, Komponenten zu fertigen und zu liefern. Also wurden die Aufträge anderweitig vergeben. Die Partner springen füreinander ein
Im vergangenen Jahr hatten die Europäer Probleme, Magnetspulen zu bauen. Also übernahmen China und Russland den Bau von jeweils einer Spule. In den USA droht der Kongress die Forschungsgelder drastisch zu kürzen. Jetzt wird beraten, wie die anderen in dem Fall den USA helfen könnten, ihren Beitrag zu leisten. Denn dort werden wichtige Komponenten gefertigt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbar sein müssen.
Der Iter wird nach dem Prinzip der Fusion durch magnetischen Einschluss arbeiten: In einer torusförmigen Kammer, dem Tokamak, wird bei einer Temperatur von 150 Millionen Grad ein Plasma aus Wasserstoffisotopen erzeugt. Ein Magnetfeld hält das Plasma
In diesem Zustand werden die Elektronen von der Atomhülle abgetrennt. Es entsteht ein elektrisch leitendes Gemisch aus Elektronen und den ungebundenen Atomkernen, den Ionen. Da es nicht mit den Wänden der Brennkammer in Kontakt kommen darf, wird es in einem Magnetfeldkäfig gehalten, das die 18 supraleitenden Magneten erzeugen. Kollidieren in dem Plasma Ionen, stoßen sie sich nicht gegenseitig ab, sondern verschmelzen zu einem Heliumkern. Dabei werden ein Neutron und Energie freigesetzt. Viel Energie: Bei einer Heizleistung von 50 Megawatt sollen 500 Megawatt thermische Energie erzeugt werden. Ein Fusionskraftwerk braucht Akkus
Erweist sich das Prinzip als tragfähig, wird es allerdings noch einige Jahre dauern, bis kommerzielle Kraftwerke ans Netz gehen können. Bis dahin ist etwa zu klären, wie lange ein Tokamak am Stück arbeiten kann. Denn dieser Reaktor funktioniert nur im Pulsbetrieb - wobei ein Puls bis zu einer Stunde dauern soll. Um das Netz konstant mit Strom zu versorgen, braucht ein Fusionskraftwerk mächtige Energiespeicher. Möglicherweise erweist sich deshalb das Stellarator-Prinzip, nach dem die Versuchsanlage Wendelstein 7-X in Greifswald funktioniert, als die bessere Variante: Ein Stellarator soll nämlich im Dauerbetrieb arbeiten können.
Immer vorausgesetzt, die Fusion funktioniert. Wann das bewiesen wird, werden wir in den kommenden Monaten erfahren. Der Zeit- und Kostenplan, den Bigot dann verkündet, soll verbindlich sein. Auf eine grobe Vorhersage lässt sich Griffith ein: "Innerhalb der nächsten zehn Jahre werden wir eine Schlagzeile aus Cadarache senden können."